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alphablogarchiv:sueden [2021/12/29 21:42]
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alphablogarchiv:sueden [2021/12/29 21:43] (aktuell)
admin
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 [[https://alphabettinenblog.com/2016/07/18/ricarda-de-haas-oral-literal-medial-assoziationen-zwischen-kiez-und-welt-2/]] [[https://alphabettinenblog.com/2016/07/18/ricarda-de-haas-oral-literal-medial-assoziationen-zwischen-kiez-und-welt-2/]]
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 Mein tablet weigert sich, ein normales Foto zu machen. Wie immer ich es halte, welche Einstellungen ich auch ändere, das Bild steht auf dem Kopf. Vielleicht teilt mein Gerät die kindliche Vorstellung, dass auf der Südhalbkugel die Menschen kopfüber laufen und in Gefahr sind, in den Himmel zu fallen. Schließlich gebe ich auf und knipse mühsam upside down. Ich will dieses Bild, obwohl das Wichtigste darauf nicht zu sehen sein wird: dass es erst seit drei Minuten überhaupt etwas zu fotografieren gibt. Ich will den Moment einfangen, diese grandiose Überraschung, wenn plötzlich Schönheit auftaucht, wo vorher nur Nichts war.\\ Mein tablet weigert sich, ein normales Foto zu machen. Wie immer ich es halte, welche Einstellungen ich auch ändere, das Bild steht auf dem Kopf. Vielleicht teilt mein Gerät die kindliche Vorstellung, dass auf der Südhalbkugel die Menschen kopfüber laufen und in Gefahr sind, in den Himmel zu fallen. Schließlich gebe ich auf und knipse mühsam upside down. Ich will dieses Bild, obwohl das Wichtigste darauf nicht zu sehen sein wird: dass es erst seit drei Minuten überhaupt etwas zu fotografieren gibt. Ich will den Moment einfangen, diese grandiose Überraschung, wenn plötzlich Schönheit auftaucht, wo vorher nur Nichts war.\\
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 Man sitzt in einem Restaurant, redet über Poesie, und jemand sagt: wenn jetzt kein Nebel wäre, könnte man da draußen den Tafelberg sehen. Synchrones Seufzen.\\ Man sitzt in einem Restaurant, redet über Poesie, und jemand sagt: wenn jetzt kein Nebel wäre, könnte man da draußen den Tafelberg sehen. Synchrones Seufzen.\\
  
 Es ist der vierte Tag der Konferenz. Wir sind in einer der schönsten Gegenden der Welt, aber sitzen in fensterlosen Hörsälen (wer entwirft so was?). Wir frieren, weil in Südafrika „das Konzept von Heizungen nicht bekannt“ ist, wie eine Johannesburger Poetin formulierte. Jedes Jahr im Juli werden die Menschen davon überrascht, dass ihnen etwas Winterartiges zustößt. In dicke Jacken gehüllt retten sich die Wohlhabenden in Restaurants und Büros, die Armen versammeln sich um Feuertonnen auf der Straße. „Wenn wir Ende August nachdenken, ob sich etwas gegen die Kälte unternehmen lässt, geht der Frühling los, und die Sache hat sich erledigt“.\\ Es ist der vierte Tag der Konferenz. Wir sind in einer der schönsten Gegenden der Welt, aber sitzen in fensterlosen Hörsälen (wer entwirft so was?). Wir frieren, weil in Südafrika „das Konzept von Heizungen nicht bekannt“ ist, wie eine Johannesburger Poetin formulierte. Jedes Jahr im Juli werden die Menschen davon überrascht, dass ihnen etwas Winterartiges zustößt. In dicke Jacken gehüllt retten sich die Wohlhabenden in Restaurants und Büros, die Armen versammeln sich um Feuertonnen auf der Straße. „Wenn wir Ende August nachdenken, ob sich etwas gegen die Kälte unternehmen lässt, geht der Frühling los, und die Sache hat sich erledigt“.\\
  
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 **Literatur und Welt**\\ **Literatur und Welt**\\
  
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 Es hat etwas seltsam Distanziertes, dieses Bezogensein auf Bücher und Diskurse. Diese Langsamkeit, Gründlichkeit. Jemand schreibt ein bis zwei Jahre an einem guten Roman über Flüchtlinge, Kindersoldaten oder den Alltag in einer Megapole. Jemand anderes verbringt zwei bis drei Forschungsjahre damit, diese Bücher zu analysieren. Nun sind die klugen Gedanken doppelt in der Welt, einmal als Literatur und einmal als Literaturkritik. Werden weiter getragen in den Köpfen der Zuhörenden, die mit diesen Gedanken in ihr Zuhause fliegen, in die Welt.\\ Es hat etwas seltsam Distanziertes, dieses Bezogensein auf Bücher und Diskurse. Diese Langsamkeit, Gründlichkeit. Jemand schreibt ein bis zwei Jahre an einem guten Roman über Flüchtlinge, Kindersoldaten oder den Alltag in einer Megapole. Jemand anderes verbringt zwei bis drei Forschungsjahre damit, diese Bücher zu analysieren. Nun sind die klugen Gedanken doppelt in der Welt, einmal als Literatur und einmal als Literaturkritik. Werden weiter getragen in den Köpfen der Zuhörenden, die mit diesen Gedanken in ihr Zuhause fliegen, in die Welt.\\
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 **Transit**\\ **Transit**\\
  
 Diese Selbstverständlichkeit! Der erste Flug ein Abenteuer, der zweite noch großartig. Dann hat man sich eingerichtet – kämpft am Terminal um die letzte Steckdose zwischen fünfzehn Handys. Ist beim Transit in Istanbul erleichtert, dass keine Spuren der Anschläge zu sehen sind. Erschrickt nach dem Start, weil der Fensterplatz nach Maputo fliegt.. Not to worry, wir fliegen über Johannesburg nach Maputo. Ah-ja. Laptop, Essen, Video, Schlaf. Als gehörte dieses Zwischenreich der virtuellen Welt an, nur dass der transportierte Körper noch versorgt werden muss.\\ Diese Selbstverständlichkeit! Der erste Flug ein Abenteuer, der zweite noch großartig. Dann hat man sich eingerichtet – kämpft am Terminal um die letzte Steckdose zwischen fünfzehn Handys. Ist beim Transit in Istanbul erleichtert, dass keine Spuren der Anschläge zu sehen sind. Erschrickt nach dem Start, weil der Fensterplatz nach Maputo fliegt.. Not to worry, wir fliegen über Johannesburg nach Maputo. Ah-ja. Laptop, Essen, Video, Schlaf. Als gehörte dieses Zwischenreich der virtuellen Welt an, nur dass der transportierte Körper noch versorgt werden muss.\\
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 **Realität und Theorie**\\ **Realität und Theorie**\\
  
 Unsere theoretischen Konzepte sind von der tagesaktuellen Realität leicht erschüttert: Nizza, Istanbul, Dallas. Britische Kollegen thematisieren öffentlich ihr Entsetzen über den Brexit. Simbabwische Wissenschaftler sagen in letzter Minute ab, weil sie seit drei Monaten auf ihr Gehalt warten. Südafrikanische Studierende zeigen Videos ihrer Proteste: gegen (neo-)koloniale Denksysteme (‚Rhodes must fall!‘), gegen massive Anhebung der Studiengebühren (‚Fees must fall!‘). Amerikanische Konferenzteilnehmer nehmen die Sicherheitshinweise nicht ernst und schließen Bekanntschaft mit lokalen Kriminellen. Eine Künstlerin aus Kapstadt fragt Johannesburger Poeten, ob sie auch unter der Wasserknappheit litten. Letzeres scheint sich als Querschnittsthema zu etablieren: Ressourcenknappheit, der Anthropozän in der Literatur.\\ Unsere theoretischen Konzepte sind von der tagesaktuellen Realität leicht erschüttert: Nizza, Istanbul, Dallas. Britische Kollegen thematisieren öffentlich ihr Entsetzen über den Brexit. Simbabwische Wissenschaftler sagen in letzter Minute ab, weil sie seit drei Monaten auf ihr Gehalt warten. Südafrikanische Studierende zeigen Videos ihrer Proteste: gegen (neo-)koloniale Denksysteme (‚Rhodes must fall!‘), gegen massive Anhebung der Studiengebühren (‚Fees must fall!‘). Amerikanische Konferenzteilnehmer nehmen die Sicherheitshinweise nicht ernst und schließen Bekanntschaft mit lokalen Kriminellen. Eine Künstlerin aus Kapstadt fragt Johannesburger Poeten, ob sie auch unter der Wasserknappheit litten. Letzeres scheint sich als Querschnittsthema zu etablieren: Ressourcenknappheit, der Anthropozän in der Literatur.\\
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 **Worte und Bilder**\\ **Worte und Bilder**\\