Artefakt

12. September 2016
Ricarda de Haas: oral literal medial? Assoziationen zwischen Kiez und Welt\\ https://alphabettinenblog.com/2016/09/12/ricarda-de-haas-artefakt/


Wissen Sie denn, was das ist?

Ich schaue auf das silberne Ding in meiner Hand. Ich weiss es nicht, ich versuche gerade, das heraus zu finden.

Für eine Querflöte ist es zu eckig. Klobig auch. Auch hat es nur an einem Ende eine Öffnung. Und da, wo bei einer Flöte das Mundstück wäre, ist ein aufgesetztes Kästchen, dessen Klappe nur lose schließt. Theoretisch könnte man Tabak hinein füllen. Nur was nützt einem das, wenn die Verbindung zum Schaft verschlossen ist? Pfeife schließt also aus.

Es könnte ein Zepter für ein Laientheater sein. Die Verzierungen sind simpel, dunkel vom Staub. Das Ding ist jedenfalls so schwer, dass man damit würdevoll winken könnte: Kopf ab! Sind Zepter innen hohl, damit man darin wichtige Dokumente verstaut? Das würde zumindest erklären, warum die Öffnung oben nicht nur einen Deckel hat, sondern auch mit einem Kettchen gesichert ist.

Natürlich war das eine rhetorische Frage. Er will das Ding schließlich verkaufen. Seine Stimme klingt triumphierend: Es ist ein Reiseschreibset! Er muss den Satz heute schon oft gesagt haben, es ist das schönste Stück an seinem Stand. Und trotzdem ist er ganz aufgeregt. Schauen Sie, hier oben hat man die Federn hinein geschoben. Und an der Seite wurde die Tinte eingefüllt.

Hm, da muss ganz schön viel ausgelaufen sein, wenn man mit dem Ding im Gepäck so in der Kutsche durch die Landschaft holperte. Oder doch schon im Orientexpress?

Ich frage nicht nach dem Preis. Es gibt Dinge, die man haben möchte, ohne dass man sie haben möchte. Nicht ohne Bedauern lege ich es zurück. Als wir wegschlendern, fragen wir uns, wie sie das gemacht haben. Die Tinte in Fläschchen herum getragen, und erst im Hotel eingefüllt? Ein Pulver dabei gehabt, und es dann mit Wasser angerührt?

Ja, es ist aufregend. Eine verschwundene Kulturtechnik, nützlich und schön. Ich fühle mich, als hätte ich einen Gruß bekommen. Von einer verwandten Seele, aus einer anderen Zeit.


Nachtrag: Wir lagen nicht ganz richtig und nicht ganz falsch. Tatsächlich sind diese Schreibsets osmanischen Ursprungs, es gab sie seit Mitte des 17 Jhs. Kalligraphen benutzten sie, schrieben mit Rohrfedern und Tinte aus Lampenruß, auch farbiger oder goldener Tusche. Und sie trugen das Ganze am Gürtel. Ich stelle es mir beeindruckend vor, das Symbol eigenen Könnens so verziert und gewichtig in die Welt zu tragen. (Selbst wenn sie – anders als Smartphones – vermutlich tropften.) Diese Federn waren nicht schwach. Schwerter des Geistes, könnte man sagen…



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