Süden, im Winter
18. Juli 2016
Ricarda de Haas: oral literal medial? Assoziationen zwischen Kiez und Welt
https://alphabettinenblog.com/2016/07/18/ricarda-de-haas-oral-literal-medial-assoziationen-zwischen-kiez-und-welt-2/
Mein tablet weigert sich, ein normales Foto zu machen. Wie immer ich es halte, welche Einstellungen ich auch ändere, das Bild steht auf dem Kopf. Vielleicht teilt mein Gerät die kindliche Vorstellung, dass auf der Südhalbkugel die Menschen kopfüber laufen und in Gefahr sind, in den Himmel zu fallen. Schließlich gebe ich auf und knipse mühsam upside down. Ich will dieses Bild, obwohl das Wichtigste darauf nicht zu sehen sein wird: dass es erst seit drei Minuten überhaupt etwas zu fotografieren gibt. Ich will den Moment einfangen, diese grandiose Überraschung, wenn plötzlich Schönheit auftaucht, wo vorher nur Nichts war.
Man sitzt in einem Restaurant, redet über Poesie, und jemand sagt: wenn jetzt kein Nebel wäre, könnte man da draußen den Tafelberg sehen. Synchrones Seufzen.
Es ist der vierte Tag der Konferenz. Wir sind in einer der schönsten Gegenden der Welt, aber sitzen in fensterlosen Hörsälen (wer entwirft so was?). Wir frieren, weil in Südafrika „das Konzept von Heizungen nicht bekannt“ ist, wie eine Johannesburger Poetin formulierte. Jedes Jahr im Juli werden die Menschen davon überrascht, dass ihnen etwas Winterartiges zustößt. In dicke Jacken gehüllt retten sich die Wohlhabenden in Restaurants und Büros, die Armen versammeln sich um Feuertonnen auf der Straße. „Wenn wir Ende August nachdenken, ob sich etwas gegen die Kälte unternehmen lässt, geht der Frühling los, und die Sache hat sich erledigt“.
Literatur und Welt
Heute sind wir ausgebüxt und sitzen an der Waterfront, während die Kollegen tapfer eine Preisverleihung durchstehen. Doch da, wo Wale baden sollen, wirbelt ein weißes Nichts, aus dem das dumpfe Hupen der Nebelhörner tönt. Uns schwirrt der Kopf vom Reden, und doch können wir nicht aufhören damit. Als müssten wir jede Sekunde, die wir haben, für den Austausch nutzen: Über Literatur, über die Welt.
Es hat etwas seltsam Distanziertes, dieses Bezogensein auf Bücher und Diskurse. Diese Langsamkeit, Gründlichkeit. Jemand schreibt ein bis zwei Jahre an einem guten Roman über Flüchtlinge, Kindersoldaten oder den Alltag in einer Megapole. Jemand anderes verbringt zwei bis drei Forschungsjahre damit, diese Bücher zu analysieren. Nun sind die klugen Gedanken doppelt in der Welt, einmal als Literatur und einmal als Literaturkritik. Werden weiter getragen in den Köpfen der Zuhörenden, die mit diesen Gedanken in ihr Zuhause fliegen, in die Welt.
Transit
Diese Selbstverständlichkeit! Der erste Flug ein Abenteuer, der zweite noch großartig. Dann hat man sich eingerichtet – kämpft am Terminal um die letzte Steckdose zwischen fünfzehn Handys. Ist beim Transit in Istanbul erleichtert, dass keine Spuren der Anschläge zu sehen sind. Erschrickt nach dem Start, weil der Fensterplatz nach Maputo fliegt.. Not to worry, wir fliegen über Johannesburg nach Maputo. Ah-ja. Laptop, Essen, Video, Schlaf. Als gehörte dieses Zwischenreich der virtuellen Welt an, nur dass der transportierte Körper noch versorgt werden muss.
Realität und Theorie
Unsere theoretischen Konzepte sind von der tagesaktuellen Realität leicht erschüttert: Nizza, Istanbul, Dallas. Britische Kollegen thematisieren öffentlich ihr Entsetzen über den Brexit. Simbabwische Wissenschaftler sagen in letzter Minute ab, weil sie seit drei Monaten auf ihr Gehalt warten. Südafrikanische Studierende zeigen Videos ihrer Proteste: gegen (neo-)koloniale Denksysteme (‚Rhodes must fall!‘), gegen massive Anhebung der Studiengebühren (‚Fees must fall!‘). Amerikanische Konferenzteilnehmer nehmen die Sicherheitshinweise nicht ernst und schließen Bekanntschaft mit lokalen Kriminellen. Eine Künstlerin aus Kapstadt fragt Johannesburger Poeten, ob sie auch unter der Wasserknappheit litten. Letzeres scheint sich als Querschnittsthema zu etablieren: Ressourcenknappheit, der Anthropozän in der Literatur.
Worte und Bilder
Und doch liefern all unsere Debatten nur neue Perspektiven, aber keine stringenten Analysen. Unsere Ratlosigkeit angesichts dessen, was gerade weltweit geschieht, ist augenfällig. Wir stecken mitten drin, wir hatten noch keine zwei bis drei Jahre Zeit zum Nachdenken. Unsere Worte ergeben zu wenig Sinn. Der kleine Junge, bei dessen Familie ich wohne, ruft lauthals „not speaking!“, wenn wir stundenlang diskutieren, statt mit ihm zu spielen. Jetzt, am Ende der Konferenz, möchte ich das auch rufen, einfach weil so viele Worte in so vielen Sprachen um mich sind.
Als die Kellnerin die Rechnung bringt, lichtet sich der Nebel. Erst sind Schiffe zu sehen, dann die Häuser, dann ragt eine dunkle Masse auf, und plötzlich ist er da, der Berg.
copyright (text and pictures) Ricarda de Haas 2016/2021