26. März 2016
Ricarda de Haas: oral literal medial? Assoziationen zwischen Kiez und Welt
https://alphabettinenblog.com/2016/03/26/ricarda-de-haas-fruehling-in-berlin/
Schlendern…
…über den Flohmarkt. Ein Bücherstand, privat, voll zerlesener Exemplare. Schöne Ausgaben, inzwischen alt und muffig. Sie könnten aus dem Nachlass einer literaturbesessenen Tante stammen. Dazwischen ein schmales Bändchen, fest verschweißt in glatter, heller Umhüllung. Kein noch so winziges Loch erlaubt einen Blick auf das Cover. Neugierig geworden löse ich die Plastikhülle, um den Titel dieses Stiefkindes zu erspähen: „Die Ungelesenen Briefe“.
Ich schiebe den Band in die Hülle zurück. Später lässt es mir keine Ruhe. Ich will wissen, was es mit diesen Briefen auf sich hat. Den Namen des Autors habe ich vergessen. Eine erste Recherche zeigt ein erstaunliches Bild. Die Welt scheint voller Briefe, die niemand lesen will. Ungeöffnete Liebesbriefe, Fanpost, fairmail, Feldpost der Großväter, den Enkeln von der Elterngeneration hinterlassen.. Die menschliche Sehnsucht, einander mitzuteilen, wird auf eine asymmetrische Kommunikation reduziert: viele Sender, wenig Empfänger.
Wer ist Mostafa Hamad?
Endlich ein sinnvolles Ergebnis: Mostafa Hamad veröffentlichte 2010 ein Paperback mit diesem Titel. Das Erscheinungsjahr würde zumindest erklären, warum der bibliophilen Tante keine Zeit mehr blieb, es zu lesen. Das Buch ist nicht mehr lieferbar, Hinweise auf Verlag oder Ort fehlen. Wer ist Mostafa Hamad? Ich finde einen Chirurgen, einen Paläontologen, einen Informatiker und einen Fotografen. Alle haben publiziert, letzterer einen Band mit Fotos von 100 zeitgenössischen arabischen FotografInnen http://arabpx.com/book2015/. Keiner von ihnen schreibt auf deutsch, keiner listet Briefe unter seinen Publikationen.
Signed, Sealed, & Undelivered
Ich suche weiter. Und finde eine Schatztruhe. Von der Art und Größe, wie Piraten sie lässig auf der Schulter tragen. Nur dass diese hier eine Posttruhe ist. Sie wurde zwischen 1689-1707 von Simon und Marie de Brienne, die als Postmeister in Den Haag für alle Post aus Frankreich, Spanien und den Niederlanden zuständig waren, mit insgesamt 2600 unzustellbaren Briefen gefüllt. Der Schatz gelangte schon 1926 in den Besitz des Museum voor Communicatie in The Hague, wird aber erst seit 2015 in dem Projekt Signed, Sealed, & Undelivered systematisch erforscht.
Ansehen
Ich stöbere, zunehmend fasziniert, auf der homepage des Projektes http://brienne.org. Neben den feinen Schnörkeln geübter SchreiberInnen, die den gesamten Brief wie mit einem kostbaren Muster überziehen, finden sich mit Flecken übersäte Schreiben, Rechnungen, dazugelegte Zeichnungen. Umschläge gab es damals nicht, sondern die Bögen wurden je nach Anlass und Kenntnis kompliziert gefaltet und rot, braun oder in einem warmen Goldtton versiegelt. Ein Teil des Projektes befasst sich nur mit dieser ‚letterlocking‘ genannten Falttechnik, und den darin eingeschriebenen Codes. Liebesbriefe wurden z.B. oft in Diamantform gefaltet. https://www.youtube.com/channel/UCNPZ-f_IWDLz2S1hO027hRQ
Anhören
Die Schreiben sind in französisch, spanisch, italienisch, niederländisch und latein verfasst, teilweise lautsprachlich ohne Satzzeichen. Letzteres ist eine Besonderheit der Sammlung, da nicht nur Zeugnisse von Gebildeten überliefert sind, sondern aus allen Bevölkerungsschichten: reisende Künstler, Händler, Flüchtlinge, Spione oder Analphabeten, die ihre Briefe diktierten – sie schickten ein Lebenszeichen oder Liebesgrüße, baten um Geld, suchten Arbeit oder den Kindsvater, warnten vor gefährlichen Reiserouten oder Zwangsrekrutierung, wickelten Geschäfte ab. Manches kann man in Übersetzung anhören:
https://soundcloud.com/wnpr/letter-from-tours-in-tourraine-16-november-1698
Unzustellbar
Man kann es der Post nicht verdenken, wenn sie von manchen Adressen überfordert war: „To Monsieur Gauflet, instrumentalist in the Acting troupe of his Britannic Majesty in The Hague, or wherever they might be at the moment“. Oft waren die Empfänger auch verstorben, verzogen oder verweigerten die Annahme. Letzeres passierte häufig, denn im 17.Jh. zahlten die Briefschreiber nur bis zur Grenze. Den nach der Grenze anfallenden Anteil des Portos übernahmen die Empfänger, wenn sie konnten oder wollten. Allerdings wurden die meisten der Briefe zuerst geöffnet – offensichtlich war es möglich, einen Brief zu lesen und anschließend die Annahme zu verweigern oder zu vertagen. Die de Briennes nannten die Schatztruhe deshalb ihr spaarpotje.
Verborgene Geheimnisse..
600 Briefe wurden im Lauf der letzten 300 Jahre nie geöffnet. Um sie in geschlossenem Zustand zu erhalten, werden sie mit einer sonst in der Zahntechnik verwendeten hochauflösenden 3-D-Röntgentechnologie durchleuchtet und anschließend am Computer zusammengesetzt. Möglich ist das, weil die Tinte damals eisenhaltig war, was bis heute für klare Konturen sorgt. Und ihr diesen zauberhaften dunkelbraunen Ton verleiht.
..gelüftet
Ihr Briefgeheimnis wird trotzdem nicht gewahrt. Der erste ungeöffnete Brief wird am 13. April 2016 der Öffentlichkeit präsentiert, wer will kann dabei sein, es sind noch Plätze frei: http://libcal.mit.edu/event/2309079 Das Credo „das Internet vergisst nichts“ scheint plötzlich sehr relativ. Denn es sieht ganz so aus, als gäbe es eine Menge bibliophile Tanten, denen ungelesene Briefe keine Ruhe lassen. Geschriebenes will gelesen werden, selbst wenn es 300 Jahre dauert. Vielleicht müssen sich Mostafa Hamads Ungelesene Briefe noch ein wenig gedulden.
weiterlesen
http://musicologynow.ams-net.org/2016/03/on-letters-discovery-and-cooperation.html
http://www.theguardian.com/world/2015/nov/08/undelivered-letters-17th-century-dutch-society
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/historische-briefe-ungeoeffnete-post-aus-17-jahrhundert-entdeckt-a-1067959.html
http://www.spektrum.de/news/forscher-wollen-versiegelte-post-aus-dem-17-jahrhundert-lesen/1378810
http://www.cbc.ca/radio/asithappens/as-it-happens-tuesday-edition-1.3312388
copyright (text and picture) Ricarda de Haas 2016/2021