21. Mai 2016
Ricarda de Haas: oral literal medial? Assoziationen zwischen Kiez und Welt
https://alphabettinenblog.com/2016/05/21/ricarda-de-haas-bilderwelten/
I Schauen
Treffen mit freunden zum super food. Bunte gesunde säfte in gläsernen flaschen. Buntes gesundes essen auf schlichten tellern. Man sitzt auf schemeln, die fürs melken geschnitzt wurden und perfekt zu den flaschen passen. Überhaupt ist understatement hier groß geschrieben.
Die speisekarte liest sich englisch und liegt einsam am tresen. Wir rätseln, welche sprache die schwangere am nebentisch spricht. Portugiesisch? Rumänisch? Katalan? Als ihr essen kommt, zückt sie das handy. Arrangiert teller und gläser, lädt zufrieden das bild hoch.
Unser essen ist auch angekommen. Steht bunt und rund auf weißem quadrat. Man kann nicht anders, ein foto muss sein. Die freundin ist inkognito in der stadt. Wenn sie die bilder jetzt postet, kennt jeder ihren standort. Soll sie oder soll sie nicht?
Das essen ist köstlich. Der frischgepresste saft, überaus lecker, könnte als eigenständige mahlzeit durchgehen. Und alles so leicht im magen. Man fühlt sich beschwingt. Man möchte sofort auf ein fixie bike steigen und erfolgreich in eine zukunft streben.
Als die schwangere und ihre freundin gehen, setzt sich ein japanisches pärchen. Sie holt ihre kamera heraus. Die sieht schwarz aus und schwer wie eine alte spiegelreflex. Liegt aber leicht in ihrer hand. Er rückt die teller zurecht, sie nimmt sich zeit. Macht das foto. Wählt einen anderen winkel. Macht noch eins. Lädt es hoch.
Als teilten wir alle ein ritual. Ein kurzes innehalten vor dem essen. Foto und posten statt tischgebet und toasten.
Die gegenwart ruft. Wir brechen auf. Zu fuß, per bahn, ohne fixie.
II Angeschaut werden
Ich sitze im büro und schaue aus dem fenster. Jeder zehnte bleibt stehen und fotografiert. Wie soll man denken können, wenn man dabei fotografiert wird? Natürlich fotografieren sie nicht mich, sie wollen das graffity nebenan. Ein bild vom bild sozusagen.
Ich bin irrititiert. Wenn ich von der tastatur hochschaue bin ich auf der suche nach klarheit oder inspiration. Will schauen ohne zu schauen. Es ist ein die-augen-stumm-wandern-lassen, während etwas in mir zu worten werden will. In diese verpuppung hinein zielen sie. Auf das haus, das doch die welt von mir fernhalten soll. Ich ganz ruhig hier drinnen und die anderen laut da draußen – so ist doch das konzept von häusern.
Auf der liste der meistfotografierten wohnbauten muss dieses einen platz unter den ersten fünfzig haben, hinter dem wiener hundertwasserhaus und vor dem geburtshaus einer mittleren berühmtheit, sagen wir else lasker-schüler.
Ich frage mich, warum alle von exakt derselben position aus exakt dasselbe motiv wählen. Es gibt doch noch mehr graffities in der stadt. Wollen sie ihren reiseführer reinszenieren? Das bild einsammeln, das ihnen versprochen wurde. Auf der suche nach etwas, das ihnen das gefühl gibt, dagewesen zu sein. In berlin!
Manche sehen so aus, als brauchten sie dieses graffity. Eine bestätigung, dass es woanders leute mit ähnlichen ideen, ähnlichen visionen gibt. Sie wollen teil von etwas sein, sich verbunden fühlen. Andere wirken, als würde ihr erlebnis zur erinnerung noch während sie mitten darin sind. Als könnten sie das original gar nicht wahrnehmen, weil sie sich gleich auf das das abbild konzentrieren.
III Sein
Ich kehre heim. Berliner sommerabend. Auf der strasse flanieren touristen. Menschen, die gesehen werden wollen. Meine nachbarn sitzen vorm haus. Eine winzige insel der ruhe. Ich habe einen plötzlichen hunger nach realität. Setze mich dazu. Esse wurstbrot und trinke bier. Wir überlegen, wann die bäume gepflanzt wurden, die jetzt blühen. Was die kinder mal werden wollen, später. Kiezgefühl. Von der eigenen treppenstufe aus fügen sich clubber, flaschensammler und touris im dunkeln harmonisch ins bild.
Und niemand, wirklich niemand macht ein foto davon.
copyright (text and picture) Ricarda de Haas 2016/2021